Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist ein Ausnahmeinstrument.
Mit über 87.000 aktuell gültigen Tarifverträgen haben die Tarifpartner ein differenziertes System von Arbeitsbeziehungen geschaffen. Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen ist dabei die Ausnahme in unserem durch die Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie geprägten deutschen Tarifsystem.
Wird ein Tarifvertrag nach § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) für allgemeinverbindlich erklärt, gilt er bundesweit oder regional für alle Betriebe und Beschäftigten einer Branche. Betriebe müssen diesen Tarifvertrag deshalb auch dann anwenden, wenn sie bisher nicht tarifgebunden waren – z. B. weil sie nicht Mitglied in dem Arbeitgeberverband sind, der den Tarifvertrag abgeschlossen hat.
Zur verfassungsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie gehört jedoch nicht nur das Recht, einer Tarifvertragspartei beizutreten – sondern auch das Recht, einer solchen Koalition fern zu bleiben. Daher nimmt die AVE von Tarifverträgen eine Sonderrolle im deutschen Tarifsystem ein. Nicht für jede Branche und Tarifvertragspartei kommt die AVE von Tarifverträgen in Frage. Die im Verhältnis zu allen geltenden Tarifverträgen (über 87.000) vergleichsweise geringe Zahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge dokumentiert ihren Ausnahmecharakter (233 AVE im Jahr 2024, Bundesarbeitsministerium 2024).
Mit der AVE verantwortungsvoll umgehen
Die BDA steht als Spitzenorganisation der deutschen Arbeitgeberverbände im Einvernehmen mit ihren Mitgliedern für die Koalitionsfreiheit und einen verantwortungsbewussten und vorsichtigen Umgang mit dem Instrument der AVE. Eigene Durchsetzungs- und Prägekraft sowie breite Akzeptanz der Tarifverträge sollten Ziel und Anspruch der Tarifpolitik sein, um sich im Wettbewerb mit anderen Formen der Bestimmung von Arbeitsbedingungen seitens der Betriebe behaupten zu können. Dies kann nur mit ausgewogenen, produktivitätsorientierten, differenzierten und flexiblen Tarifregelungen gelingen. Tarifbedingungen sollten Mindestbedingungen sein, um Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in einer Branche zu erhalten und zu fördern.
Die AVE muss im öffentlichen Interesse geboten sein
Durch die gesetzliche Neuregelung im Jahr 2014 wurden die rechtlichen Vorrausetzungen der AVE im Tarifvertragsgesetz (TVG) grundlegend geändert. Das „öffentliche Interesse“ ist nunmehr die wesentliche Voraussetzung für eine AVE. Eine AVE erscheint in der Regel im „öffentlichen Interesse“ geboten, wenn „der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat“ oder alternativ „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine AVE verlangt“.
Die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Arbeitgeber und ihre Beschäftigten, die bisher nicht Mitglied einer Tarifvertragspartei sind, bedarf dabei immer einer besonderen Rechtfertigung. Maßgeblich für das „öffentliche Interesse“ ist deshalb der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das „öffentliche Interesse“ ist nur dann gegeben, wenn aufgrund der Beschäftigungslage und unter Berücksichtigung branchenspezifischer Besonderheiten einheitliche und angemessene Beschäftigungsbedingungen zu ihrem Schutz notwendig sind.
Tarifausschuss als Kontroll- und Gestaltungsorgan
Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) kann einen Tarifvertrag nur im Einvernehmen mit dem paritätisch aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen Arbeitgeber und der Beschäftigten bestehenden Tarifausschuss auf Bundesebene (Tarifausschuss beim BMAS) auf Antrag beider Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären. Parallel dazu können die zuständigen Landesbehörden im Einvernehmen mit dem jeweiligen Landestarifausschuss für ihr Bundesland gültige Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären.Die Tarifausschüsse üben im Rahmen des AVE-Verfahrens eine Kontroll- und Gestaltungsfunktion aus. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine AVE im „öffentlichen Interesse“ geboten erscheint, steht ihren Mitgliedern ein Beurteilungsspielraum zu. Mit der Berücksichtigung der Interessen der Antragsteller und ihrer Mitglieder, der Außenseiter, aber vor allem auch der gesamten Wirtschaft wird die Balance zwischen der positiven und negativen Koalitionsfreiheit gewahrt, also der Freiheit, sich einem Arbeitgeberverband oder einer Gewerkschaft anzuschließen oder sich gegen eine solche Mitgliedschaft zu entscheiden. Damit leisten die Tarifausschüsse einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der Tarifautonomie. Durch das Mitspracherecht der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Beschäftigten im AVE-Verfahren wird zugleich die Neutralität des Staats bei der Regelung von Arbeitsbedingungen unterstrichen. Die Tarifausschüsse sind damit Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips der Sozialen Marktwirtschaft, nach dem Aufgaben auf der Ebene wahrgenommen werden sollen, die hierzu am besten in der Lage ist.